Wie auf einem anderen Planeten
Landschaft dank Chemie
»Es spottet jeder Beschreibung, welches Chaos von Steingletschern mit klaffenden Schründen und weiten Spalten, welche schauerlichen Grüfte und welch’ unbeschreibliche, fantastische Erosionsformen wir da zu durchwandern, zu vermeiden und zu bewundern hatten.«
Mit diesen Worten brachte es der Pfarrer, Lehrer, Erfinder und Geologe Johann Hauenschild (1842–1901) aus Windischgarsten in Oberösterreich auf den Punkt, was Wandernde im Karst erwartet: Kalkgestein, zerrissen in Klüfte und Spalten, voll heimtückischer Schächte und scharfer Felsklingen …
Karst über der Adria – am Rilkeweg in Duino bei Triest.
Das Dachstein-Karstplateau „Auf dem Stein“ im südlichen Oberösterreich.
Löchrige Gegenden
Karstverwitterung hat schon vor Jahrmillionen immer wieder stattgefunden – sofort nachdem verkarstungsfähiges Gestein über den Meeresspiegel gehoben wurde. Schuld daran ist die chemische Verbindung aus Kohlenstoff und Sauerstoff: CO₂ – Kohlenstoffdioxid. Das saure und farblose Gas verbindet sich mit Wasser zu schwacher Kohlensäure, die korrosionsanfällige Karbonatgesteine anzugreifen vermag.
Kalkstein besteht zwar weitgehend aus nur schwer löslichem Calzit, verbindet sich jedoch mit Kohlensäure (und auch mit Huminsäuren aus dem Boden) zu Calziumhydrogencarbonat – und das wird von Wasser viel leichter aufgelöst. Dieser Korrosionsprozess (lateinisch corrodere = zersetzen oder zerfressen) setzt nicht nur dem Kalk, sondern in geringerem Maße auch Dolomit und Gips zu, wobei an der Oberfläche und auch im Untergrund charakteristische Lösungsformen entstehen.
Diese Erscheinungen prägen unter anderem die Landschaft Kras/Carso (Karst) im Südwesten Sloweniens und in der Umgebung der italienischen Hafenstadt Triest, wo man sie schon im 19. Jahrhundert intensiv erforscht hat – daher subsumiert man sie heute weltweit unter dem Begriff „Karst“.
Auf der Gesteinsoberfläche löst sich der Kalk entlang von Rissen und dort, wo das Wasser abläuft, und zwar umso mehr, je kälter dieses ist. Besonders stark wirkt das chemische Zerstörungswerk unter der Vegetationsdecke, da die Wurzelatmung mehr CO2 ins Spiel bringt. So kann ein Liter Wasser bis zu 300 Milligramm Kalk aufnehmen, was dazu führt, dass in manchen Gebieten seit dem Ende der letzten Eiszeit schon 15 Zentimeter erodiert sind.
Ein unter einer Humusdecke entstandenes Karrenfeld im Bödmerenwald (Zentralschweiz).
Schier endlos weiter Schichttreppenkarst im Toten Gebirge (Steiermark).
Die Vielfalt der Karsterscheinungen
• Die auffälligsten Karsterscheinungen, vor allem auf dickbankigen Kalkschichten im Hochgebirge, sind Karrenfelder. Auf diesen unterschiedlich großen Felsplatten entwickeln sich durch die Korrosion unterschiedliche Vertiefungen – zunächst haarfeine bis fingerdicke Rillenkarren, die geradlinig und weitgehend parallel zueinander abwärts verlaufen, bis sie sich aufgrund der sich vermindernden Lösungskraft des Wassers nach einigen Zentimetern Länge auslaufen.
• Mehr Zeit für ihre Entwicklung brauchen die tieferen und längeren Rinnenkarren, die sich hangabwärts meist verbreitern; manche von ihnen zeigen einen vielfach gewundenen Verlauf. Da und dort entwickeln sich auch muldenförmige, treppenartig angeordnete Tritt- und Lochkarren oder ganze Lösungsbecken, sogenannte Kameniza. Sie können ebenso bis zu ein, zwei Meter tief und breit werden wie die Kluftkarren, die an Bruchlinien des Gesteins gebunden sind und sich mitunter sogar kreuzen. Die Gesteinsbereiche zwischen all diesen Vertiefungen können flach bleiben, aber auch zu messerscharfen Mini-Graten oder zu spitzen Pyramiden verwittern. Derartige Gebilde nennt man im alemannischen Sprachbereich „Schratten“, worauf sich auch die geologische Bezeichnung des besonders verkarstungsfreudigen Schrattenkalks bezieht. Wer zerklüftete Karrenfelder überschreitet, benötigt gute Trittsicherheit, entdeckt dabei aber auch so manches anspruchslose Pflanzenwunder, das inmitten dieser lebensfeindlichen Steinöde mit ein wenig eingeschwemmter Erde auskommt.
• Typisch für Karstlandschaften sind Poljen – Mulden und Täler ohne oberflächlichen Abfluss. Das Wasser verschwindet dort in Klüften und Rissen oder in Schluck- bzw. Schwundlöchern, um nach einer verschlungenen Reise durch das Bergesinnere weiter unten, gebremst durch wasserundurchlässige Gesteinsschichten, als Karstquellen wieder ans Tageslicht zu kommen.
• Als die gefährlichsten Karstgebilde gelten Dolinen: Diese trichter- oder schachtförmigen Hohlformen, die mehrere Hundert Meter tief sein können, entstehen durch die Auslaugung des Untergrunds entlang von Klüften, das langsame Einsacken oder das Einstürzen der berstenden Gesteinsschicht. Bei Nebel oder verborgen unter einer dünnen Schneedecke wurden Dolinen schon etlichen Wandernden zum Verhängnis.
• Da die Korrosion im Bergesinneren besonders stark wirkt (dort kann sich innerhalb von 1000 Jahren eine bis zu 5,5 Zentimeter dicke Kalkschicht lösen), entstanden im Laufe von Millionen Jahren Höhlen. Im längsten bisher bekannten unterirdischen Labyrinth Europas, dem System der Schönberghöhle im westlichen Toten Gebirge, sind Forscher schon mehr als 150 Kilometer weit ins finstere Unbekannte vorgestoßen. Es sind die Wege des Wassers, in dem das gelöste Karbonat auch wieder ausgefällt werden kann. So entstehen in Höhlenräumen Sinterbeläge und Tropfsteine (frei hängende Stalaktiten und vom Boden anwachsende Stalagmiten), während sich an Karstquellen poröser Kalktuff bilden kann.
• Schichttreppenkarst mit breiten, stufenartigen Abbrüchen entsteht, wenn von wenig geneigten Gesteinsschichten ganze Pakete abrutschen oder von vorstoßenden Gletschern – ans Eis angefroren – mitgerissen werden.
• Als Grünkarst bezeichnet man verkarstete Gebiete unterhalb der Waldgrenze.