Relikte schriftloser Kulturen
Social media von gestern?
Durch Schläge eines spitzen Steins oder eines Metallmeißels, aber auch durch Einkerbungen hinterließen Menschen auf Felsflächen in aller Welt rätselhafte Linien, Zeichen und bildlichen Darstellungen. Warum?
Punkt für Punkt, nacheinander gesetzt, oder Strich auf Strich – so füllten sich seit Jahrtausenden zahlreiche Felsoberflächen und Gesteinswände mit allerlei Symbolen, Tier- und sogar Menschenfiguren. Wer diese Mühe auf sich nahm, versuchte damit vielleicht Freude oder Angst auszudrücken, gab Bitten, Hoffnungen oder Sehnsüchten Ausdruck. Und hinterließ manchmal wohl auch nur den Hinweis: „Ich war da“. Felsbilder sind einzigartige Relikte schriftloser Kultur.
Als sich Seeleute, Konquistadoren und Forscher im 16. Jahrhundert von Europa aus aufmachten, um unbekannte Weltgegenden zu entdecken und auszurauben, bekamen sie nicht nur fremde Landschaften, Menschen und Tiere zu Gesicht, sondern da und dort auch unscheinbare, in Stein gepunzte oder geritzte Gravuren. Verwunderung riefen dabei nicht nur die seltsamen Zeichnungen und Symbole selbst hervor, sondern auch ihre unerklärliche Ähnlichkeit über Kontinente hinweg. So konstatierte schon Alexander von Humboldt (1769–1859), „dass Völker sehr verschiedener Abstammung in gleicher Rohheit, in gleichem Hange zum Vereinfachen und Verallgemeinern der Umrisse, zur rhythmischen Wiederholung und Reihung der Bilder durch innere geistige Anlage getrieben, ähnliche Zeichen und Symbole hervorbringen können.“
Diese Symbole spiegeln auch menschliche Vorstellungen vorgeschichtlicher Epochen wider. Auf jeden Fall müssen sie zur Zeit ihrer Entstehung allgemein bekannt und verständlich gewesen sein. Manche Zeichen hat man selbst in jüngerer Vergangenheit noch in Holztüren, Tische oder Wände alpiner Hütten geritzt, andere galten als bäuerliche Haus- und Hofmarken oder treten uns als Kerbzeichen in historischen Bergbaugebieten entgegen; da und dort findet man seltsame Ritzungen auch an alten Kirchenmauern.
Viele Felsbilder sind mehrfach durch weitere Zeichnungen überarbeitet worden; vielleicht hatte auch dies eine bestimmte Bedeutung. Heute ist dieses Kulturgut jedoch durch Vandalismus gefährdet – und durch Versuche, Kerben mit Kreide oder Nachritzungen für Fotos zu verdeutlichen. Aus diesem Grund können neu entdeckte Felsbilderstationen nicht mehr publik gemacht werden.
Das Panoptikum der Felsbilder-Symbole
• Einfache oder mehrfache Kreise mit Strahlen nach innen oder nach außen, Swastika (Hakenkreuze), Sternformen, Penta-, Hexa- und Oktogramme
• Anthropomorphe Figuren (stilisierte bzw. mehr oder weniger naturalistische Menschendarstellungen, etwa als Oranten mit zum Gebet erhobenen Händen, arbeitend, kämpfend, tanzend und nicht wenige davon ithyphallisch, d. h. gemäß antiker Fruchtbarkeitsvorstellungen mit vergrößertem männlichen Glied), weiters Idol- und Fantasiefiguren, Handformen und Fußspuren, weibliche und männliche Sexualsymbole
• Wild- und Haustiere, Jagdszenen, Stier- und Ochsenköpfe, Bäume und baumähnliche Gebilde, Gebäude (darunter auch Pfahlbauten), Boote und sogar Schiffe, verschiedenstes Werkzeug, rechteckige „Paletten“, Karren und Pflügeszenen
• Aus jüngerer Zeit auch Inschriften, persönliche Initialen, Jahreszahlen oder christliche Symbole
Felsbilder der West- und Zentralalpen
Im Alpenraum hielt man die steinerne Bilderwelt anfangs bloß für Kritzeleien gelangweilter Jäger oder Hirten. Als erste erweckten die Felsbilder in den französischen Alpes Maritimes gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Neugier einzelner Forscher.
Da sich viele Darstellungen auf den ersten Blick nur schwer interpretieren lassen und sich überdies in Lokalitäten wie dem Vallée des Merveilles (= Tal der Wunder), dem Valmasque (vom provencialischen „masca“ = Hexe) oder am Fuße der Cime du Diable (= Teufelsspitze) verbergen, vermutete man zunächst, dass mystische Vorstellungen und Götterverehrung dahinterstecken könnten. Tatsächlich findet man dort zum Beispiel eine Figur, die Blitze schleudert. Die meisten Darstellungen, die bis auf die Jungsteinzeit zurückgehen, kreisen jedoch um die Lebens- und Gedankenwelt von Bauern und Hirten: Etwa achtzig Prozent der dortigen Zeichnungen zeigen Rinderhörner verschiedenster Formen und Größen.
Als noch vielfältiger erwies sich die ab 1909 erforschte Felsbilderwelt im norditalienischen Valcamonica. Dieses Tal zwischen den Bergamasker Alpen und der Adamellogruppe erstreckt sich im Norden des Lago d’Iseo; dort kann man einen Teil der 200.000 bisher dokumentierten Figuren, die 1979 in die UNESCO-Liste des Welterbes aufgenommen wurden, ohne Mühe in erschlossenen Felsbilderparks besichtigen (rupestre.net, bresciatourism.it).
Aufgrund der Quantität der Bilder konnte sich dort eine eigene „Sprache“ in der Felsbildkunst entwickeln, die bis heute Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Untersuchungen ist. Wie auch im Bereich der Alpes Maritimes liegt der Grund für die große Anzahl der Darstellungen nicht zuletzt am dafür geeigneten Untergrund. Da wie dort luden unzählige, vor Millionen Jahren durch Vulkanausbrüche entstandene und von Eiszeitgletschern abgeschliffene Sandsteinplatten zum Zeichnen geradezu ein.
Felsbilder im Osten der Alpen
Anders ist die Situation der rund 40.000 Felsbilder in den Nördlichen Kalkalpen, die erst seit den 1950er Jahren (wieder)entdeckt wurden. Man fand sie zwischen Oberbayern und den steirisch-niederösterreichischen Alpen auf Bergsturzblöcken, an Steilflanken und Wänden von Karstgassen, unter Felsüberhängen (Abris) oder Höhlenportalen.
Da sie meist in die Verwitterungsrinde des Kalks eingeritzt wurden, haben sie eine kürzere „Lebenszeit“ als Zeichnungen auf härterem Gestein. Laut dem steirischen Felsbildforscher Franz Mandl dürften von diesen Darstellungen nur rund fünf Prozent auf die Antike und die Urgeschichte zurückgehen; etwa 15 Prozent stammen aus dem Mittelalter und 60 Prozent aus der Neuzeit (so birgt etwa eine trockene Klamm im Pinzgauer Saalachtal die fast lebensgroße Ritzfigur eines französischen Solaten, vermutlich aus der Zeit der Freiheitskämpfe von 1809). Sie sind, wie der langjährige Obmann des alpinen Forschungsvereins ANISA festhält, „meist das einzige Zeugnis von Personen, die nicht in offizielle, schriftliche Quellen Eingang gefunden haben“ und erinnern damit an das Alltagsleben und die Vorstellungen einfacher Menschen. Viele der Orte, an denen sich Bauern, Mägde und Knechte, Holzarbeiter, Jäger, Wilderer oder Wallfahrer „verewigt“ haben, waren einst stärker frequentiert als heute.