Wildnis – oder wieder Wildnis

Unberührte Natur gibt es kaum noch – doch sie wird wieder mehr

Das Erbe der Evolution

Ist Mitteleuropa wild? Das war es einmal. Noch im Mittelalter gab es riesige, von Menschen kaum veränderte Wälder und weite Moore. Davon blieben nur winzige Reste übrig. Ihre Bedeutung ermisst sich allein schon im Hinblick auf den Klimawandel, auf Bodenversiegelung, Waldbrände und den Verlust von Artenvielfalt. 

Doch wollen wir Wildnis? Unsere Gesellschaft tut sich noch schwer mit „diesem Abseits von geordneten Zuständen“, wie der deutsche Umweltjournalist Claus-Peter Lickfeld schrieb: „Wald? Aber ja doch! Wald ist der Wurzelgrund der Natursehnsucht. Aber Wildnis? Da fletscht in unserem kollektiven Unterbewusstsein noch immer der Rotkäppchen verschlingende Wolf die Zähne. Da waltet Willkür, kauert Chaos hinter bemoosten Felsen.“

Zumindest an einigen Orten zwischen dem Mittelmeer und dem Wienerwald beantwortet man die Frage nach der Notwendigkeit von Wildnis jedoch mit einem klaren Ja. Zum Beispiel im Nationalpark Kalkalpen in Oberösterreich: Dort treffen wir Franz Sieghartsleitner, den langjährigen Leiter der Abteilung für Marketing, Veranstaltungen und touristische Kooperationen, zum Interview. „Der Siegi“ wurde 1961 im Steyrtal geboren, ist ausgebildeter Jurist und war einer der Initiatoren des Nationalparks Kalkalpen; als begeisterter Bergsteiger und Radsportler, aber auch durch sein besonderes Interesse für die Natur, die regionale Volkskultur und die Fotografie, wurde er zum Autor zahlreicher Wander- und Radführer über die Region. 

Ein Blick zurück

Auf die Frage, ob wir Wildnis brauchen, blickt der Nationalparkexperte zunächst einmal dreieinhalb Milliarden Jahre zurück: „Unser Planet ist ja aus einem toxischen Gemisch von heißer Lava, Wasserstoff, Kohlendioxyd und Schwefelgasen zu einem Lebensraum geworden. Biologische Genies wie die Bakterien haben das Wunder der Fotosynthese entwickelt. Pflanzen sind im Meer entstanden und an Land gegangen, sie haben Unmengen an Kohlendioxyd in Sauerstoff umgewandelt, unsere Atmosphäre geschaffen und die Ozonschicht, ohne die uns die UV-Strahlen der Sonne verbrennen würden. Hunderte Millionen Pilz-, Pflanzen- und Tierarten sind entstanden. Das gesamte Ökosystem Erde ist ein Superorganismus, in dem alles fein aufeinander abgestimmt ist. Jeder Eingriff in dieses Gleichgewicht hat Auswirkungen für unsere Zukunft.“

Die treibende Kraft hinter der Entwicklung der Natur war und bleibt die Evolution: „Sie funktioniert nach einem einzigen Grundprinzip: Es braucht immer genügend verschiedene Individuen innerhalb einer Art, dann ist immer eines dabei, das Antworten finden wird  auf Fragen, die wir heute noch gar nicht kennen, weil sie erst morgen gestellt werden. Die Evolution stattet alle Lebewesen mit unterschiedlichen Fähigkeiten aus, um Herausforderungen wie Pandemien oder Klimaänderungen überleben zu können. Um Arten das Überleben zu ermöglichen, brauchen sie aber großflächige Räume, in denen die Evolution ohne menschliches Einwirken wie Verbauung, Zerschneidung durch Verkehrswege, Schwermetallbelastung, Düngung oder auch Jagd stattfinden können. Solche Wildnisgebiete sind die unabdingbare Voraussetzung für das Überleben fast aller Arten unseres Planeten – und unsere Gesundheitsarchive, denn wir kennen nur einen winzigen Bruchteil der Heilwirkungen von Pflanzen und Pilzen.“

Welche Bedeutung hat Wildnis?

„Gemäß den Kriterien der Weltnaturschutzunion IUCN machen Wildnisgebiete nur ein Prozent der Landfläche Europas aus, dabei gäbe es sehr viel mehr wildnistaugliche Flächen. Besonders der alpine Raum hat noch großräumig unzerschnittene und von Infrastruktur freie Flächen. Noch, denn selbst das Hochgebirge ist einem wachsenden Erschließungsdruck ausgesetzt, etwa durch immer größere Seilbahn- und Skierschließungen, durch Energiegewinnung, Bergbau und Forstwirtschaft. Die letzten zusammenhängenden Naturräume der Alpen sind aber auch Naturraum-Korridore für wandernde Arten, so etwas wie ökologische Trittsteine. Der von uns Menschen so stark befeuerte Klimawandel bringt einen großen Verlust an Lebensräumen und Arten mit sich, und zwar wegen der fehlenden Ausweichmöglichkeiten von Pflanzen und Tieren. Wildnisgebiete sind als Wander- und Naturraum-Korridore also ganz besonders wichtig in den Alpen. Sie rasch umzusetzen ist also dringend notwendig, um Ökosysteme möglichst „klimafit“ zu machen.“

Bleibt die Frage, wo so etwas funktionieren kann. Da führt Franz Sieghartsleitner als Beispiel den Urwald Rothwald im steirisch-niederösterreichischen Grenzgebiet an: „Zwischen dem Dürrenstein und dem Salzatal dort ist ein echter, ungefähr vier Quadratkilometer großer Urwald erhalten geblieben. Nicht gerodet wurde er wegen Besitzstreitigkeiten zwischen Klöstern. 1875 hat ihn die Bankiersfamilie Rothschild gekauft und unberührt gelassen. Heute steht er unter dem Management des Wildnisgebiets Dürrenstein-Lassingtal (wildnisgebiet.at), das von der UNESCO als Weltnaturerbe anerkannt wurde. Der Urwald darf nur im Zuge von Führungen betreten werden.“ 

Das hat aber auch seinen Grund, denn nur hier lassen sich die natürlichen Abläufe in einem Primärwald, einem völlig intakten Waldökosystem, wissenschaftlich beobachten: „Inzwischen laufen schon Arbeiten, um die Naturräume der Nationalparks Gesäuse und Kalkalpen und des Naturparks Steirische Eisenwurzen über sogenannte Trittstein-Biotope miteinander zu verbinden. So soll die Kulturlandschaft dazwischen so durchgängig gemacht werden, dass der Austausch von Arten möglichst gut funktioniert. Extrem seltene und vom Aussterben bedrohte Arten sollen sich langfristig wieder ausbreiten können. In Kooperation mit den Österreichischen Bundes- und den Steiermärkischen Landesforsten sind die ersten drei Trittsteinflächen schon umgesetzt worden.“