Glückliche Wildbeuter und die ersten Bauern
Halali und Höhleninterieur
So hatte sich der Homo neanderthalensis, dessen Knochen erstmals 1856 in Norddeutschland gefunden wurden, auf das Eiszeitklima, das dort vor etwa 400.000 Jahren herrschte, sehr gut eingestellt. Die Neandertaler hatten großes Geschick als Jäger und Handwerker, das zeigen altsteinzeitliche Funde auch aus Alpenhöhlen; man konnte ihnen auch kultische Praktiken nachweisen. Sie waren kräftiger gebaut als der Homo sapiens, der sich inzwischen in Ostafrika entwickelt hatte.
Auch diese – unsere direkten Vorfahren – hatten sich sich auf Wanderschaft begeben und Europa vor etwa 45.000 Jahren erreicht. Dort drangen sie in die Lebensräume der Neandertaler vor, die in der Folge trotz ihrer körperlichen Überlegenheit verschwanden – ob durch Vermischung oder Ausrottung, ist ungewiss. Den Siegeszug des Homo sapiens erklärt der israelische Historiker Yuval Noah Harari durch eine „kognitive Revolution“, die Menschen dank ihrer Sprache und der Fähigkeit, über viele Informationen und sogar über erfundene Dinge zu kommunizieren, zur Organisation komplexer Vorhaben und zur Zusammenarbeit auch in großen Gruppen befähigt hätte.
Hinterlassenschaften jener Gruppen der Jäger und Sammler, die auch Teile der Alpen durchstreift und dort in Höhlen und Grotten Unterschlupf gesucht haben, gibt es nicht allzu viele. Manche Historiker skizzieren ihre Lebensweise jedoch als die erste Wohlstandsgesellschaft der Welt: Diese Nomaden hatten so gut wie keinen Besitz, kaum feste Behausungen und daher auch wenig Verpflichtungen. Da sie ständig in Bewegung waren und sich ausgewogen ernährten, waren sie wohl topfit und litten nur selten unter Infektionen. Einsamkeit muss unter den Wildbeutern weitgehend unbekannt gewesen sein. Doch ihr Leben konnte auch unsagbar hart sein, etwa in Hungerphasen oder nach einem Unfall, der oft einem Todesurteil gleichkam.
Vom Jägerstammtisch zum Bergbauernhof
Vor rund 10.000 Jahren sind die großen Gletscher der letzten Eiszeit langsam zurückgeschmolzen. Mit den ansteigenden Temperaturen und der wieder vordringenden Vegetation kamen auch wieder Bären, Wölfe, Rehe und Rothirsche, Gämsen, Steinböcke und Murmeltiere ins Gebirge. Ihren Fährten folgten die Wildbeuter der Mittelsteinzeit bald bis in Regionen oberhalb der Baumgrenze, wo sie sommerliche Lager aufschlugen. Dort war die Jagd – nun auch schon mit Pfeil und Bogen – einfacher als in den bewaldeten oder versumpften Tälern.
Bohrer, Kratzer, Klingen, Speer- und Pfeilspitzen bestanden damals aus kunstvoll abgeschlagenen und damit sehr scharfen Stücken von Bergkristall oder Feuerstein (Silex). Diese Material ließ sich aber nur in ganz bestimmten gebieten abbauen, etwa in den Lessinischen Bergen in der Nähe von Verona oder aber auch in Seitengräben des Kleinwalsertals – dort findet man heute noch die Flurbezeichnung „Feuersteinmähder“. Hoch gelegene Abbaustellen von Bergkristall fand man unter anderem im Riepenkar am Olperer in den Zillertaler Alpen oder zwischen dem Gotthardpass und der Surselva in Graubünden. Besonders prestigeträchtig waren wohl Äxte und Beile aus Jadeit, der zwischen 5200 und 4000 v. Chr. am Monte Viso in den italienischen Westalpen gebrochen wurde. All das zeigt: Die Alpen waren in der Mittelsteinzeit alles andere als ein entlegener Hinterwinkel und auch kein Grenzbereich, sondern bereits eine Transitzone mit überregionalen Handelskontakten.
Die Jäger legten Holzstangen an Felsvorsprünge (Abris) und verflochten sie mit Zweigen, Moos und Flechten zu Steildächern. Ähnliche Lagerplätze wurden beispielsweise im Salzach- und im Saalachtal gefunden, im Gschnitz-, im Fotscher und im Pitztal in Nordtirol, am Ritten, auf der Lüsner und der Seiser Alm in Südtirol, in der Nähe des Passo Rolle und im Val Sugana im Trentino, im Rheintal bei Feldkirch und Sargans, unterhalb des Gottesackerplateaus im Kleinwalsertal, im Gotthardgebiet oder am Fuße des Matterhorns. Auf dem Plan de Frea im hinteren Grödnertal kamen unter einem Abri sogar zwei menschliche Milchzähne zum Vorschein. Sie beweisen, dass die Jäger mit der ganzen Familie unterwegs waren. Im 2150 Meter hoch gelegenen Weidegebiet von Mondeval in den Belluneser Dolomiten hat man vor rund 8500 Jahren einen etwa vierzigjährigen Mann bestattet. Und im Süden des Massif des Ecrins in den französischen Alpen entdeckten Forscher:innen im Sommer 2006 abstrakte Farbdarstellungen an der Decke eines Felsunterstandes – die höchstgelegenen prähistorischen Malereien, die bisher bekannt sind.
Einschneidende Veränderungen der menschlichen Lebensweise ergaben sich vor ungefähr 6000 Jahren, während der Jungsteinzeit, als die Menschen auch im Alpenraum langsam sesshaft(er) wurden, um sich mehr und mehr dem Anbau von Kulturpflanzen und der Tierhaltung zuzuwenden. In der Folge dieser neolithischen Revolution entstanden erste Siedlungen im Süden und Westen der Alpen, die zunächst noch recht „mobil“ gewesen sein müssen. Das gilt vielfach auch für die Pfahlbauten, die zwischen dem fünften und dem ersten vorchristlichen Jahrtausend an Seeufern und in Feuchtgebieten des Alpenvorlandes und auch in einigen höher gelegenen Gebieten konstruiert wurden. Im Sommer trieb man Nutztiere auf höher gelegene Bergweiden; wahrscheinlich etablierten sich da und dort erste Vorformen der Alpwirtschaft und der Transhumanz.